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Die Schweiz und die EU-Energiepolitik

Im Verhältnis Schweiz-EU liegt einiges im Argen. Auch der Zutritt der Schweiz zum europäischen Strommarkt müsste dringend geregelt werden. Aber das Abkommen, das eigentlich alle wollen, ist blockiert. Doch wie wichtig ist der volle Marktzugang für die Schweizer Stromversorgung wirklich, und was würde ein Alleingang für die Energieziele der Schweiz bedeuten?

Zusammenfassung des Forschungsprojekts «Die Schweiz und die EU-Energiepolitik».
Der "Stern von Laufenburg", Schweizer Wiege des europäischen Stromnetzes.
Der "Stern von Laufenburg", Schweizer Wiege des europäischen Stromnetzes. Wikimedia Commons / Badener
Auf einen Blick

Auf einen Blick

  • Kurzfristig kann die Schweiz auch ohne ein Elektrizitätsabkommen mit der EU die Stromversorgung sichern – die Kosten sind aber höher.
  • Langfristig drohen ohne Elektrizitätsabkommen Engpässe in der Stromversorgung.
  • Das Ausbleiben eines Elektrizitätsabkommens gefährdet den Ausbau der erneuerbaren Energien nicht, führt aber wahrscheinlich zum Bau von Gaskraftwerken in der Schweiz.

Atomausstieg, Energieeffizienz, Ausbau der erneuerbaren Energien und Senkung des CO2 -Ausstosses – die Ziele, denen sich die Schweiz mit der Energiestrategie 2050 verschrieben hat, sind ehrgeizig. Und sie machen unser Land abhängiger vom europäischen Strommarkt. Denn der Stromhandel ist ein wesentliches Mittel, um die wechselnde Verfügbarkeit von Wasserkraft, Wind und Sonne auszugleichen. Deshalb arbeiten die Strombranche und die Behörden schon lange auf ein Abkommen hin, das den freien Zugang zum europäischen Strommarkt sichern soll.

Doch seit dem Ja zur Einwanderungsinitiative ist die EU nicht mehr so gut auf die eigenwillige Schweiz zu sprechen. Ohne ein institutionelles Rahmenabkommen, welches das Verhältnis der Schweiz zur EU regelt, will diese weder bei der Elektrizität noch in sonstigen Bereichen weitere Verträge abschliessen. Doch das mit der Schweizer Auffassung von Souveränität schwer vereinbare Rahmenabkommen steht auf der Kippe. Drohen damit auch ein Scheitern der Energiestrategie sowie eine Beeinträchtigung des Stromhandels? Und wie steht es um die Sicherheit der Stromversorgung?

Mit dieser Frage beschäftigten sich Wissenschaftler verschiedener Schweizer Universitäten. Sie kommen zum Schluss, dass die Schweiz zumindest kurzfristig auch ohne Elektrizitätsabkommen auskommen kann, wenn auch mit höheren Kosten. Längerfristig aber droht Ungemach.

Vom zentralen Player zum Zaungast

Um zu verstehen, wie es zu der gegenwärtigen schwierigen Situation kam, untersuchten die Forschenden die vergangene Entwicklung des Verhältnisses Schweiz-Europa im Elektrizitätswesen. Bis in die 90er Jahre war die Schweiz der zentrale und einflussreiche Player, der das wichtigste Schaltzentrum im europäischen Stromnetz beherbergte – Insider reden gerne vom «Stern von Laufenburg».

Je weiter jedoch die EU politisch und technisch zusammenwuchs, desto schwieriger wurde es für die Schweiz, zu Spezialbedingungen am Strommarkt teilzuhaben. Zwar beteiligt sich die hiesige Strombranche weiterhin an der Entwicklung von Standards, und die Schweiz nimmt eigene Liberalisierungsschritte vor, um im Hinblick auf ein Elektrizitätsabkommen EU-Schweiz kompatibel zu bleiben. Aber ohne Fortschritte auf politischer Ebene droht sie den Anschluss zu verlieren.

Rahmenabkommen als Stolperstein

An Unterstützung für ein Elektrizitätsabkommen mit der EU mangelt es nicht, wie die Wissenschaftler mittels einer Analyse der Akteure in der Schweizer Stromlandschaft aufzeigen: Die massgebenden Organisationen befürworten überwiegend die internationale Vernetzung und den freien Marktzugang bei der Elektrizität – allerdings sind links-grüne Parteien, Gewerkschaften und Umweltverbände skeptisch gegenüber einer vollständigen Öffnung des Schweizer Elektrizitätsmarkts.

Der eigentliche Stein des Anstosses ist aber das institutionelle Rahmenabkommen, genauer die Übernahme zukünftigen EU-Rechts durch die Schweiz, welche die EU mit dem Rahmenabkommen besiegeln will. In den Verhandlungen um das Rahmenabkommen nimmt die EU das Elektrizitätsabkommen als Druckmittel, da dieses Abkommen für die Schweiz ungleich bedeutender ist als für die EU. Die Schweiz ihrerseits bleibt ohne Übereinkunft zum Elektrizitätsbereich von wichtigen Entwicklungen im europaweiten Strommarkt ausgeschlossen.

Langfristig grosses Risiko

Wie wichtig aber ist der volle Marktzugang für die Schweizer Stromversorgung, und was wären die Folgen eines Schweizer Alleingangs in der Elektrizität? Um diese Schlüsselfrage zu beantworten, bildeten die Forschenden Anbieter und Nachfrager auf dem europäischen Elektrizitätsmarkt in einem Computermodell nach. Das Modell simuliert, wie viel Strom fliesst, aus welchen Quellen er gespeist und zu welchem Preis er gehandelt wird.

Das Ergebnis ist auf den ersten Blick beruhigend. Demnach ist auch ohne ein Elektrizitätsabkommen der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht gefährdet, und die Stromversorgung kann zumindest bis etwa 2030 gewährleistet werden. Es wird allerdings teurer. Dies sowohl für die Konsumenten und Konsumentinnen, die höhere Strompreise berappen müssen, als auch für die Wirtschaft, die mit einem grösseren Handelsdefizit im Elektrizitätssektor zu rechnen hat.

Richtig eng wird es aber, wenn die Atomkraftwerke Gösgen und Leibstadt vom Netz gehen, was gemäss Plan im Jahr 2029 beziehungsweise 2034 geschehen soll. Spätestens dann ist die Schweiz auf Stromimporte angewiesen, besonders solange die Kapazität eigener erneuerbarer Energiequellen noch nicht voll entwickelt ist. Die Alternative sind laut Modell Gaskraftwerke auf Schweizer Boden – eine Option, die den Zielen der Energiestrategie zuwiderläuft, weil Gaskraftwerke CO2 ausstossen. Aber selbst dieser Notnagel kann beim Ausbleiben eines Elektrizitätsabkommens die Versorgungssicherheit nicht gewährleisten. Dies schliessen die Wissenschafter daraus, dass im Modell nach 2030 immer wieder Engpässe in der Stromversorgung auftreten

Ein vitales Interesse

Langfristig gesehen sind die Aussichten ohne Elektrizitätsabkommen also wenig rosig. Das Abkommen scheint unverzichtbar, um die Preise niedrig zu halten und die Stromversorgung langfristig zu sichern.

Das Fazit dieses Forschungsprojektes lautet denn auch, dass die Schweiz ein grosses Interesse hat, mit der EU über den Strommarktzutritt handelseinig zu werden. Dazu könnte es nötig sein, marktkritische Interessensgruppen mit flankierenden Massnahmen zu besänftigen. Vor allem aber wird die Schweiz kaum darum herumkommen, die Kröte des Rahmenabkommens zu schlucken, meinen die Wissenschaftler.

Kontakt und Team

Prof. Matthias Finger

École polytechnique fédérale de Lausanne
Station 5
ODY 1 01.1
015 Lausanne

+41 21 69 30001
matthias.finger@epfl.ch

Matthias Finger

Projektleiter

Paul van Baal

Manuel Fischer

Martino Maggetti

Université de Lausanne

Livia Morger

Géraldine Pflieger

Université de Genève

Jan-Erik Refle

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