Vom Naturzustand weit entfernt
Ein beispielhafter Fall ist die Tessiner Maggia, ein Kleinod von nationaler Bedeutung. Jedoch trügt die Idylle. Denn der grösste Teil der natürlichen Abflüsse aus dem Einzugsgebiet dieses Gebirgsflusses wird in ein System von Stauseen umgeleitet und nimmt den Weg durch Turbinen und Druckleitungen statt durch malerische Auenlandschaften.
Im Flussbett verbleibt nur das gesetzlich vorgeschriebene Restwasser – abgesehen vom Beitrag kleinerer Nebenflüsse ohne Wasserkraftnutzung. Bei starken Unwettern kommt es aber auch vor, dass grosse Abflussspitzen in den Fluss abgeleitet werden, um nicht die Infrastrukturen der Wasserkraftnutzung zu überlasten. Im Fluss klafft zwischen diesen Extremen eine Lücke. Im naturbelassenen Gewässer gestalten kleinere Hochwasser laufend das Flussbett um und schaffen zum Beispiel auch Verbindungen quer zum Flusslauf. So entsteht eine Vielzahl von Nischen für unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten. Ausserdem sind die natürlich auftretenden Hochwasser wichtig für die Auffrischung des Grundwassers, da der erhöhte Wasserstand einen Austausch zwischen Oberflächen- und Grundwasser bewirkt.
Die Forschenden der ETH Zürich wollten besser verstehen, wie sich das Fehlen einer natürlichen Dynamik auf den Lebensraum der Maggia und ähnlicher Gewässer auswirkt. Ihre Computersimulationen ergaben, dass sich mit einer einfachen Erhöhung der heutigen Restwassermenge durchaus eine leichte Verbesserung der ökologisch relevanten Grössen erzielen lässt. So sinkt etwa der Grundwasserpegel weniger ab, und der Fluss fliesst schneller und erreicht grössere Wassertiefen. Dennoch bleiben die so erreichten Werte weit hinter den Merkmalen eines frei fliessenden natürlichen Gewässers zurück.
Vom natürlichen Zustand entfernt sich auch die Artenzusammensetzung an der Maggia, wie eine weitere Studie durch ein Team der Eawag zeigt. Die Forschenden untersuchten das Leben in Tümpeln, die ein Hochwasser im Flussbett zurücklässt. Bleiben solche Tümpel lange abgekoppelt vom Flusslauf bestehen, tummeln sich darin mit der Zeit vermehrt Fliegen, Mücken und Käfer – kurz, Insektenarten, die stehende Gewässer lieben. Junge Tümpel hingegen beherbergen vorwiegend Steinfliegen, Eintags- und Köcherfliegen, also Arten, die für ein schnellfliessendes, kaltes und sauerstoffreiches Gewässer wie die Maggia eigentlich typisch sind. Periodisch auftretende Hochwasser spülen ältere Tümpel wieder durch und stellen die ökologische Uhr zurück. Deshalb sind Schwankungen im Wasserstand nötig, um eine Vielfalt von Lebensräumen zu erhalten.