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Gesündere Bergflüsse trotz mehr Wasserkraft

Laut Gesetz darf für die Wasserkraft ein Gewässer nie vollständig trockengelegt werden – ein Mindestabfluss muss stets vorhanden sein. Doch diese Restwasservorschrift leistet für den Schutz der Artenvielfalt unserer Bergflüsse zu wenig. So lautet das Resultat dieses Forschungsprojekts.

Zusammenfassung des Forschungsprojekts «Aquates Ökosystem». Dieses Projekt ist Teil des Verbundprojektes «Wasserkraft und Geoenergie».
Wunderschön, aber nicht unberührt – die Flussauen der Maggia sind durch die Wasserkraft stark beeinträchtigt.
Wunderschön, aber nicht unberührt – die Flussauen der Maggia sind durch die Wasserkraft stark beeinträchtigt. AdobeStock
Auf einen Blick

Auf einen Blick

  • Konstante Mindestwassermengen schaffen nicht genügend naturnahe Bedingungen, um die Artenvielfalt in Gebirgsflüssen zu schützen und die Grundwassererneuerung zu gewährleisten.
  • Es braucht variable Restwassergaben, die natürlichen Verhältnisse in Gewässern imitieren und so den Lebensraum Fluss aufwerten können, ohne die Wasserkraftnutzung stark einzuschränken.
  • In Flüssen des Hochgebirges spielt die Sedimentbelastung durch die Spülung von Wasserentnahmestellen eine grössere Rolle für die ökologische Qualität als die Restwassermengen.

Als wichtiger Pfeiler der Energiestrategie soll die Wasserkraft in Zukunft weiter ausgebaut werden. Damit dabei aber der Lebensraum der betroffenen Gewässer nicht zu stark leidet, müssen die Auswirkungen der Wasserkraftnutzung bestmöglich abgemildert werden. Dazu schreibt das Gewässerschutzgesetz vor, dass die Gewässer auch nach einer Wasserentnahme noch ein Mindestmass an Wasser führen müssen. Diese je nach Gewässer individuell festgesetzte so genannte Restwassermenge können die Behörden erhöhen, wenn es nötig erscheint, um die Wasserqualität zu sichern, Grundwasservorkommen, Geschiebehaushalt und Lebensräume zu erhalten, oder die Fischwanderung zu ermöglichen.

Wie wirkungsvoll dieser Ansatz ist, um den ökologischen Wert der Gewässer in den Bergen zu bewahren, haben Forschende der beiden ETH in Zürich und Lausanne sowie der Eawag und der Universität Lausanne untersucht. Ihr Urteil ist klar – eine konstante Mindestwassermenge, wie vom geltenden Gesetz vorgesehen, bietet keinen nachhaltigen Schutz der Artenvielfalt für viele Flüsse und Flussauen.

Vom Naturzustand weit entfernt

Ein beispielhafter Fall ist die Tessiner Maggia, ein Kleinod von nationaler Bedeutung. Jedoch trügt die Idylle. Denn der grösste Teil der natürlichen Abflüsse aus dem Einzugsgebiet dieses Gebirgsflusses wird in ein System von Stauseen umgeleitet und nimmt den Weg durch Turbinen und Druckleitungen statt durch malerische Auenlandschaften. Im Flussbett verbleibt nur das gesetzlich vorgeschriebene Restwasser – abgesehen vom Beitrag kleinerer Nebenflüsse ohne Wasserkraftnutzung. Bei starken Unwettern kommt es aber auch vor, dass grosse Abflussspitzen in den Fluss abgeleitet werden, um nicht die Infrastrukturen der Wasserkraftnutzung zu überlasten. Im Fluss klafft zwischen diesen Extremen eine Lücke. Im naturbelassenen Gewässer gestalten kleinere Hochwasser laufend das Flussbett um und schaffen zum Beispiel auch Verbindungen quer zum Flusslauf. So entsteht eine Vielzahl von Nischen für unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten. Ausserdem sind die natürlich auftretenden Hochwasser wichtig für die Auffrischung des Grundwassers, da der erhöhte Wasserstand einen Austausch zwischen Oberflächen- und Grundwasser bewirkt.

Die Forschenden der ETH Zürich wollten besser verstehen, wie sich das Fehlen einer natürlichen Dynamik auf den Lebensraum der Maggia und ähnlicher Gewässer auswirkt. Ihre Computersimulationen ergaben, dass sich mit einer einfachen Erhöhung der heutigen Restwassermenge durchaus eine leichte Verbesserung der ökologisch relevanten Grössen erzielen lässt. So sinkt etwa der Grundwasserpegel weniger ab, und der Fluss fliesst schneller und erreicht grössere Wassertiefen. Dennoch bleiben die so erreichten Werte weit hinter den Merkmalen eines frei fliessenden natürlichen Gewässers zurück.

Vom natürlichen Zustand entfernt sich auch die Artenzusammensetzung an der Maggia, wie eine weitere Studie durch ein Team der Eawag zeigt. Die Forschenden untersuchten das Leben in Tümpeln, die ein Hochwasser im Flussbett zurücklässt. Bleiben solche Tümpel lange abgekoppelt vom Flusslauf bestehen, tummeln sich darin mit der Zeit vermehrt Fliegen, Mücken und Käfer – kurz, Insektenarten, die stehende Gewässer lieben. Junge Tümpel hingegen beherbergen vorwiegend Steinfliegen, Eintags- und Köcherfliegen, also Arten, die für ein schnellfliessendes, kaltes und sauerstoffreiches Gewässer wie die Maggia eigentlich typisch sind. Periodisch auftretende Hochwasser spülen ältere Tümpel wieder durch und stellen die ökologische Uhr zurück. Deshalb sind Schwankungen im Wasserstand nötig, um eine Vielfalt von Lebensräumen zu erhalten.

Die Natur nachahmen

Mit diesen Erkenntnissen liegt ein Lösungsansatz fast auf der Hand: Statt das Restwasser gleichförmig ablaufen zu lassen, sollte man versuchen, das stete Auf und Ab der Natur nachzuahmen. Genau diese Idee untersuchten Forschende der EPFL. Mit Computersimulationen möglicher Abflussmuster konnten sie aufzeigen, dass sich viele Kenngrössen der ökologischen Gewässerqualität markant verbessern lassen – und dies ohne erhebliche Einbussen in der Stromproduktion. Ein Schlüssel dazu ist der kluge Einsatz der Speicherbecken. Statt die Stauseen vollständig zu füllen, schlagen die Wissenschaftler vor, Platz zu lassen um Hochwasserspitzen abzupuffern. Dann steht mehr Wasser für den kontrollierten Abfluss zur Verfügung. Das kommt der Natur und der Wasserkraft zugute und ist übers Ganze gesehen effizienter.

Eine naturnahe Steuerung der Restwassermenge könnte also Gewässer wie die Maggia deutlich aufwerten. Aber auch diese Massnahme ist kein Allheilmittel. Bergbäche in Höhen um 2000 Meter über Meer etwa benötigen ein anderes Rezept, wie Forschende der Uni Lausanne herausfanden. Sie testeten ihre Hypothesen mit einer intensiven Beobachtung des Gebirgsflusses Borgne d’Arolla im Kanton Wallis.

Eine lebensfeindliche Umgebung

In solchen hochalpinen Gewässern herrschen schon von Natur aus harsche Lebensbedingungen – besonders wenn sie, wie die Borgne d'Arolla, aus sehr kaltem und trübem Gletscherwasser gespeist sind. Das Abzweigen von Gletscherwasser für die Wasserkraft macht diesen Lebensraum nicht unbedingt unwirtlicher. Umgekehrt ist aber auch der Nutzen von Restwasserzugaben unklar. Einen wesentlichen Einfluss hat hingegen der Betrieb der Wasserentnahmestellen. Diese müssen regelmässig von Sediment befreit werden – im Sommer oft mehrmals täglich. Dann ergiesst sich ein Schwall von Sand und Kies in die Bäche und dezimiert die dort lebenden Insekten. Eine Revitalisierung dieser Gebirgsflüsse ist gemäss den Forschenden nur möglich, wenn die Häufigkeit dieser Spülungen reduziert wird.

Anpassungsbedarf im Gesetz

Die Bedeutung variabler Abflussmengen ist im geltenden Gewässerschutzgesetz nicht berücksichtigt. Und die gängige Methode zur ökologischen Beurteilung der Fliessgewässer ist ungeeignet, um den Einfluss der Sedimentspülungen auf die Hochgebirgsflüsse zu erfassen. In diesen Punkten müssten die gesetzlichen Grundlagen revidiert werden, meinen die Forschenden, um den Naturschutz auch bei verstärkter Nutzung der Wasserkraft zu sichern. Da aber nicht alle Gewässer gleich sind, sollten die Behörden von den Wasserkraftbetreibern eine genaue Abklärung der Umweltauswirkungen verlangen, so eine weitere Forderung aus dem Projekt. Die Werkzeuge dazu sind vorhanden – es sind die Computermodelle, mit denen die Forscher untersuchen, wie die Gewässer auf Eingriffe in den Wasserhaushalt reagieren. Die Modelle erlauben es, Experimente, die im Feld nicht möglich sind, virtuell durchzuführen – um unsere Gewässer besser zu verstehen und besser zu schützen.

Kontakt und Team

Prof. Dr. Paolo Burlando

Institut für Umweltingenieurwissenschaften
HIL D 22.3
Stefano-Franscini-Platz 5
8093 Zürich

+41 44 633 38 12
paolo.burlando@ifu.baug.ethz.ch

Paolo Burlando

Projektleiter

Tom Battin

Gianluca Bergami

Pierre Chanut

Chrystelle Gabbud

Stuart Lane

Peter Molnar

Amin Niayifar

Paolo Perona

Chris Robinson

Alle Aussagen dieser Seiten bilden den Stand des Wissens per 10.05.2019 ab.